Übersicht
Was wir diesen Sommer lesen
Eliot Higgins – We Are Bellingcat |
Spannend wie ein Thriller ist die Geschichte von Eliot Higgins, Gründer des internationalen Investigativ-Netzwerks Bellingcat. Das Konsortium ist auf Open Source Intelligence und datenforensische Methoden spezialisiert, es untersucht Fälle von Kriegsverbrechen und Finanzkriminalität. Aufsehen erregten seine Recherchen zum Absturz von Flug MH-17 in der Ostukraine und zum Attentat auf den russischen Ex-Agenten Sergei Skripal. Zum Kollektiv gehören nicht nur professionelle Rechercheur:innen, sondern auch viele Freiwillige, weshalb Higgins von einer „intelligence agency for the people“ spricht. Sein Buch zeigt, dass partizipative Formate auf dem Vormarsch sind – und dass dezentrale Schwarmintelligenz mitunter schneller und effektiver arbeitet als die deutlich teureren, zentral gesteuerten und demokratisch schwer einzuhegenden Nachrichtendienste. Gelesen von Thorsten Wetzling. |
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James Shires – The Politics of Cybersecurity in the Middle East |
Welche Rolle spielt Cybersicherheitspolitik im Nahen und Mittleren Osten? Es ist gar nicht so einfach, Antworten auf diese Frage zu bekommen. Die meisten Publikationen in diesem Themengebiet konzentrieren sich auf die drei Cyber-„Großmächte“ USA, Russland und China. James Shires hingegen nimmt die arabischen Länder in den Blick, speziell Ägypten und die Golfstaaten, die mehr oder minder autoritär regiert werden. Aspekte wie Cyberoperationen in zwischenstaatlichen Konflikten oder den Einsatz von Überwachungssoftware gegen Dissident:innen ordnet er in den politischen Kontext der Region ein. Insbesondere arbeitet er heraus, wie die verschiedenen Akteure versuchen, die politische Deutungshoheit über diese technisch komplexen Themen zu erringen, um ihre strategischen Ziele voranzutreiben. Gelesen von Alexandra Paulus. |
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Mary Anne Franks – The Cult of the Constitution |
Provokativ, aber mit großem juristischem Sachverstand lotet die US-amerikanische Rechtsprofessorin Mary Anne Franks die Grenze zwischen Verfassungstreue und -fundamentalismus in ihrem Land aus. Um die Verfassung sei eine Art Kult entstanden, der sich aus Ehrfurcht und Unwissenheit speise – schließlich hätten nur die wenigsten Menschen den Text überhaupt gelesen. Franks verdeutlicht das Phänomen anhand zweier Beispiele, Waffenrecht und Redefreiheit, und geht auch auf Besonderheiten der Internetregulierung ein. Sie zeigt, wie einflussreiche – konservative wie liberale – Lobbygruppen ihre jeweiligen Lesarten durchzusetzen versuchen. Ihre These: Fundamentalistische Strömungen erheben bestimmte Verfassungsrechte über andere und verfestigen so bestehende Machtstrukturen zulasten von Minderheiten. Damit verortet sie die Debatte innerhalb der größeren Auseinandersetzung um White Supremacy in den USA. Gelesen von Julian Jaursch. |
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Steffen Mau – Sortiermaschinen |
Globalisierung, das war bei allen Schattenseiten immer auch ein Versprechen der Grenzenlosigkeit, des globalen Zusammenwachsens. Doch war dieser Traum jemals realistisch? Der Soziologe Steffen Mau zeigt, dass Grenzen im Zeitalter der Globalisierung nicht verschwunden sind – ganz im Gegenteil: Überall auf der Welt werden sie ausgebaut, mit Stacheldraht bewehrt, zum unüberwindlichen Hindernis umgerüstet. An die Stelle des Schlagbaums sind hochgradig technologisierte Smart Borders getreten, die massenhaft Daten sammeln und bis weit in die Gesellschaft hineinwirken. Grenzen, argumentiert Mau, haben eine Filterfunktion: Während ein kleiner Kreis von Privilegierten fast überall hinreisen kann, bleibt ein großer Teil der Menschheit außen vor. Ein erhellendes Buch über Ungleichheit, die Macht der „Power-Pässe“ und digitalisierte Grenzkontrolle. Gelesen von Luisa Seeling. |
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Ian McEwan – Maschinen Wie Ich |
Ian McEwans Roman spielt im Vereinigten Königreich der Achtzigerjahre und spinnt eine Realität fort, die so nie eingetreten ist: Großbritannien verliert den Falkland-Krieg, der Mathematiker und Informatik-Pionier Alan Turing lebt noch und erzielt einen Durchbruch bei der Entwicklung Künstlicher Intelligenz. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Beziehung zwischen Charlie und Miranda, die durch die Lieferung eines der ersten lebensnahen Roboter namens Adam auf die Probe gestellt wird. Schon bald entfaltet sich eine Dreiecksromanze, die McEwan mit Humor und Empathie skizziert. Können Roboter lieben und leiden, haben sie moralische Prinzipien? „Maschinen wie ich“ wirft interessante Fragen rund um das Thema Künstliche Intelligenz auf. Gelesen von Andre Weisser. |
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Jenny Odell – How To Do Nothing |
Keine Sorge, hinter diesem Titel verbirgt sich keine Anleitung zur Resignation oder zum Rückzug aus dem öffentlichen Leben. Die multidisziplinäre Künstlerin und Autorin Jenny Odell geht vielmehr der Frage nach, wie Menschen kommunizieren, sich entspannen und entfalten im Zeitalter der Aufmerksamkeitsökonomie. Wie wirkt sich technologischer Wandel auf die Fähigkeit von Menschen aus, aufmerksam zu sein? Wie entkommt man dem Sog werbebasierter sozialer Medien, die unsere Aufmerksamkeit datengetrieben monetarisieren? Odell nähert sich dem Thema aus historischer, künstlerischer und philosophischer Perspektive. Ihr Buch gibt keine einfachen Antworten, sondern regt zur Reflexion an. Gelesen von Julian Jaursch.
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Welche Podcasts wir diesen Sommer hören
The Apology Line |
Wenn Sie eine Nummer anrufen und sich entschuldigen könnten, ohne Ihre Identität preisgeben zu müssen– wofür würden Sie sich entschuldigen? Mehr als 15 Jahre lang, von 1980 bis Mitte der Neunzigerjahre, war das unter einer New Yorker Telefonnummer möglich. Tausende Anrufer:innen wählten die Nummer und gestanden alle möglichen Taten, von Ladendiebstahl über Untreue und Drogenhandel bis hin zu Mord. Dies ist die wahre Geschichte eines Anrufbeantworters und seines Besitzers, der als „Mr. Entschuldigung“ zur lokalen Berühmtheit und am Ende von seiner eigenen Schöpfung verschlungen wurde. Der Podcast ist auch ein Blick zurück auf eine Zeit, in der Anrufbeantworter und andere Neuerungen der Kommunikationstechnologie den Beginn unserer heutigen Informationsgesellschaft einläuteten. Gehört von Sebastian Rieger. |
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The Ransomware Files |
Ransomware-Kriminalität ist inzwischen leider gut bekannt, da die Fallzahlen seit Jahren steigen. Wie reagieren Betroffene, und was können wir von ihnen lernen? Diesen Fragen geht der Journalist Jeremy Kirk in seinem Podcast „The Ransomware Files“ nach. In jeder Folge spricht er mit Betroffenen, die bereit sind, offen von dem Angriff und ihrem Krisenmanagement zu berichten. Zu Wort kommen dabei Vertreter von Organisationen, die in Deutschland und international zu den häufigsten Opfern von Ransomware-Kriminalität zählen: Kommunen, Schulen, Wasserwerke, kleine und mittelständische Unternehmen. Kirks Podcast leistet einen wichtigen Beitrag, um von der Stigmatisierung weg und hin zu einem konstruktiven Austausch zu kommen. Gehört von Alexandra Paulus. |
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Hacked |
Einen spannenden Einblick in die Ökonomie von Ransomware-Angriffen gibt die Folge „Negotiations 101“ des Tech-Podcasts „Hacked“, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die dunklen Ecken des Internets auszuleuchten. Darin erklären die Macher anhand eines Fallbeispiels – betroffen war eine Universität, und das Protokoll der Verhandlungen wurde öffentlich –, wie um Lösegeld verhandelt wird, wenn die Geisel keine Menschen, sondern Daten sind. „Hacked“ zeigt, mit welchen Tricks beide Seiten arbeiten. Der Podcast macht auch deutlich, dass sich eine regelrechte Dienstleistungsökonomie rund um Ransomware-Angriffe gebildet hat. So gibt es zum Beispiel spezialisierte Anbieter, die im Auftrag betroffener Organisationen versuchen, möglichst niedrige Lösegelder auszuhandeln. Gehört von Kilian Vieth-Ditlmann. |
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Tech Talk |
Im Podcast „Tech Talk“ des Centers for Democracy and Technology (CDT) spricht Host Jamal Magby regelmäßig mit Expert:innen über Tech- und Internet-Politik aus US-amerikanischer Perspektive. Besonders empfehlenswert ist die Folge, in der es um sogenannte Data Broker geht – Firmen, die mit riesigen Datenmengen handeln. Das CDT hat sich mit der Frage beschäftigt, welche Auswirkungen es haben kann, wenn US-Sicherheitsbehörden solche eigentlich für kommerzielle Zwecke gesammelten Daten kaufen. Ein Beispiel sind Ortungsdaten: Normalerweise brauchen Sicherheits- und Nachrichtendienste eine Erlaubnis, um sie zu sammeln. Auf dem freien Datenmarkt können sie sie ohne Weiteres erwerben. Eine Praxis, die demokratische Kontroll- und Schutzmechanismen auszuhebeln droht. Gehört von Charlotte Dietrich. |
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Citations Needed |
„Citations Needed“ ist laut Selbstbeschreibung ein Podcast über „Medien, Macht, PR und die Geschichte des Bullshits“. Das ist ernster gemeint, als es vielleicht klingt. Die Macher dieses hörenswerten Podcasts haben sich fundierte Medienkritik auf die Fahnen geschrieben und klopfen Diskurse zu ganz unterschiedlichen Themen ab. Sie konzentrieren sich dabei auf die USA, viele Themen sind aber auch für europäische Hörer:innen von Belang. Besonders spannend ist die Folge „The ‚Last $100 in Your Bank Account‘ Economy“, die sich mit dem Hype um NFTs, Bitcoin und andere Kryptowährungen beschäftigt. „Citations Needed“ zeigt, dass US-Medien den fragwürdigen Rummel ums schnelle Reichwerden nicht nur befeuert haben, sondern in einigen Fällen sogar eigene Krypto-Wetten auf den Markt gebracht haben. Ein hochrelevantes Thema, zumal auch hierzulande immer mehr Banken Produkte mit Bezug zu Bitcoin & Co anbieten. Gehört von Kilian Vieth-Ditlmann. |
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Veranstaltungen und Veröffentlichungen
Europas Halbleiter-Strategie: Papiere und Presseworkshop
In Brüssel wird unter Hochdruck an Europas Antwort auf die anhaltende Halbleiter-Krise gearbeitet – dem EU Chips Act. Vorgesehen ist unter anderem eine engmaschige Überwachung der globalen Halbleiter-Lieferkette, außerdem soll es Instrumente zur Krisenbewältigung geben. Ob diese Maßnahmen sinnvoll sind, damit beschäftigen sich Jan-Peter Kleinhans und Julia Hess in einer Reihe von kurzen Papieren. Ihr zweiter Beitrag ist soeben erschienen; darin erklären sie, warum es ein langfristiges Mapping der Halbleiter-Wertschöpfungskette braucht. In ihrem ersten Beitrag haben sie untersucht, warum das im Chips Act vorgesehene staatliche Lieferketten-Monitoring nicht zielführend ist.
Zur europäischen Halbleiterstrategie findet am Montag, dem 11. Juli, von 17 bis 18 Uhr ein Presseworkshop statt. Jan-Peter Kleinhans und Julia Hess stellen ihre Analyse zum Chips Act vor und beantworten Ihre Fragen. Interessierte Journalist:innen und Medienvertreter:innen können sich per Mail bei Andre Weisser anmelden. Die Veranstaltung findet online und auf Englisch statt.
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Data Science in Behörden – Erfahrungen aus den Niederlanden
In Deutschland entstehen derzeit Datenlabore in den Bundesministerien und im Kanzleramt. Sie sollen dafür sorgen, dass die Verwaltung stärker datengetrieben arbeitet. In den Niederlanden gibt es solche Teams bereits. Sie beschäftigen sich intensiv mit Datenauswertung, -erhebung und -visualisierung. Welche Erfahrungen haben die Niederlande mit datengetriebenen Ansätzen gemacht? Darüber hat Pegah Maham, Lead Data Scientist der SNV, am 6. Juli mit Henk de Ruiter gesprochen, Leiter der Abteilung Risikomanagement und Intelligence der niederländischen Arbeitsagentur. Eine Videoaufzeichnung des Gesprächs finden Sie hier.