Aufruf an alle Parteien und politischen Entscheidungsträger:innen

Sep 06, 2021

Die Corona-Krise hat nicht nur Politikinteressierten, sondern mittlerweile allen Bürger:innen Deutschlands Rückstand in der Digitalisierung vor Augen geführt. Dies wurde lange nicht ernst genommen. Dabei werden die zum Teil schwerwiegenden Folgen immer deutlicher – sei es für unser Bildungssystem, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft, die Leistungsfähigkeit unserer Behörden oder den Schutz von Verbraucher:innen- und Grundrechten. In Sachen Digitalisierung ist klar geworden: Wir müssen erhebliche Fortschritte machen.  

Selbstverständlich gibt es für den Digitalisierungsstau viele Ursachen, die sich nicht leicht lösen lassen. Ein grundsätzliches Problem lässt sich von uns als Mitarbeiter:innen eines Tech-Think-Tanks allerdings sehr genau benennen: In der Vergangenheit haben Parteien und politische Entscheidungsträger:innen beim Thema Digitalisierung Richtungsentscheidungen gemieden und kaum ausgereifte politische Programme entwickelt. Die Folge: Die deutsche Digitalpolitik der vergangenen zwei Jahrzehnte war größtenteils erfolglos. Umso wichtiger wäre es gewesen, dass die politischen Parteien in diesem Wahlkampf konkrete Pläne vorlegen und eindeutige Positionen beziehen, wie ein notwendiger Quantensprung in Sachen Digitalpolitik gelingen kann.  

Allerdings – wie bereits in den Wahlkämpfen der vergangenen zwölf Jahre – enthalten die Wahlprogramme erneut zu viele Buzzwords und zu wenig klare Positionen. Forderungen nach “technologischer Souveränität”, “einer Hochburg für künstliche Intelligenz”, “mehr Open Source”, “Medienkompetenz fördern” oder “Internet-Giganten regulieren” reichen im Jahr 2021 nicht mehr aus, um die enormen Herausforderungen des technologischen Wandels zu bewältigen. 

Die Politik kann nicht so weitermachen wie bisher. Ohne klare, inhaltlich fundierte digitalpolitische Programme und Richtungsentscheidungen wird keine Partei in der Lage sein, in der nächsten Bundesregierung den dringend notwendigen, digitalpolitischen Fortschritt zu vollziehen. Wir fordern daher alle Parteien und insbesondere die Wahlsieger:innen dazu auf, die verbleibenden Monate bis zur Regierungsbildung zu nutzen, um ihre digitalpolitischen Programme nachzubessern und konkrete Lösungen zu benennen, mit denen sich eine digitalpolitische Wende in den nächsten vier Jahren erreichen lässt. 

Wo fehlen klare Positionen und fundierte Antworten? Die Expert:innen der SNV haben die aus ihrer Sicht entscheidenden Fragen zusammengetragen. Unsere Expert:innen können bei weitem nicht alle wichtigen Themen und Herausforderungen der Digitalpolitik überblicken. Wir rufen daher alle Verbände, Forschungsorganisationen oder Nichtregierungsorganisationen – die ebenfalls zu digitalpolitischen Themen arbeiten und forschen – die politischen Parteien anzusprechen und dort klare Positionierungen und Pläne einzufordern, wo diese bisher fehlen.

Fragen an Parteien und politischen Entscheidungsträger:innen


1. Digitalisierung im öffentlichen Sektor 

Ob Online-Verwaltungsangebote oder die Digitalisierung im Bildungssektor: Die Erfolgsbilanz von Digitalisierungsvorhaben des öffentlichen Sektors ist unzureichend. Ohne erhebliche Fortschritte in Regierung und Verwaltung wird sich der Rückstand zu den führenden Nationen in den nächsten Jahren weiter vergrößern. Wie soll die nächste Bundesregierung erfolgreicher werden? Soll auf die bestehenden Verwaltungsstrukturen gesetzt werden, um etwa mit einem Digitalministerium Fortschritte zu erzielen? Oder werden grundlegende Veränderungen der Verwaltungs- und Regierungsstrukturen wie etwa die Flexibilisierung der Laufbahnen im öffentlichen Dienst und die Stärkung ressortübergreifender Projektarbeit eingeleitet?  

Ansprechpartner:inen: Julia Hess & Stefan Heumann 
 

2. Digitale Souveränität und globaler technologischer Wettbewerb

Halbleiter sind nur eine von vielen zentralen Feldern der Informationstechnologien, in denen Deutschland und die europäische Union in eine starke Abhängigkeit geraten ist. Politiker:innen fast aller politischen Lager sorgen sich daher um die “digitale Souveränität” und wollen heimische Technologie-Industrien stärken. Trotz öffentlichen Ankündigungen der EU-Kommission und der Bundesregierung wird in der Praxis häufig gezögert, wenn es um eine massive Förderung einzelner Industriebereiche oder Unternehmen geht. Welchen Kurs sollte die Politik einschlagen? Soll eine offensive Industriepolitik betrieben werden, mit der Unternehmen auf breiter Fläche staatlich subventioniert werden – was gleichzeitig bedeuten würde, Regeln für staatliche Beihilfen in der EU teilweise auszusetzen? Oder soll ein marktliberaler Weg eingeschlagen werden, bei dem staatliche Subventionen – etwa an einzelne Chip-Hersteller – nur in Ausnahmen und nach langer Prüfung genehmigt werden, dafür aber der Wettbewerb innerhalb Europas geschützt wird? 

Ansprechpartner:innen im Bereich Technologie & Geopolitik: Jan-Peter Kleinhans & Philippe Lorenz
 

3. Förderung von Künstlicher Intelligenz in Deutschland

In der Anwendung Künstlicher Intelligenz (KI) ist Deutschland weit abgeschlagen und droht – ähnlich wie während der ersten Digitalisierungswelle in den 2010er Jahren – global den Anschluss zu verlieren. Viele Politiker:innen fordern deshalb, Forschung und Innovation im KI-Bereich massiv zu fördern. Dies gelang bisher kaum: Von den im Rahmen der KI-Strategie geplanten 5 Milliarden Euro wurden bisher erst 300 Millionen Euro investiert. Wie lassen sich die erheblichen finanziellen Mittel so ausgeben, so dass sie möglichst viel Wirkung entfalten? Sollen Gelder über bestehende Strukturen der Forschungs- und Wirtschaftsförderung möglichst breit verteilt werden? Oder sollen verstärkt neue Instrumente wie die Agentur für Sprunginnovation genutzt werden, um ausgewählte Technologie- und Forschungsbereiche viel stärker gezielt zu fördern?  

Ansprechpartner:innen im Bereich Künstliche Intelligenz: Philippe LorenzKate Saslow, Leonie Beining & Stefan Heumann 
 

4. Regulierung von künstlicher Intelligenz

Die EU-Kommission hat erstmals einen Vorschlag für gesetzliche Vorgaben und Regeln für die Entwicklung und den Einsatz künstlicher Intelligenz durch Unternehmen und Behörden vorgelegt – sei es bei der Auswahl von Bewerberinnen, zur Bewertung der Kreditwürdigkeit oder der Polizeiarbeit. Die nächste Bundesregierung muss entscheiden, für welche Richtung in der KI-Regulierung sie sich in Europa einsetzt. Soll Deutschland auf eine harte Regulierung hinwirken, die rote Linien etwa für den Einsatz von Gesichtserkennungstechnologien bei Sicherheitsbehörden festlegt und die Rechte der Nutzer:innen im Falle von Diskriminierung stärkt? Oder schlägt sich die nächste Regierung auf die Seite der Regulierungskritiker:innen, die einen hohen Bürokratieaufwand und Nachteile im internationalen Wettbewerb für den europäischen KI-Standort fürchten?

Ansprechpartner:innen im Bereich Künstliche Intelligenz: Philippe Lorenz, Kate Saslow, Leonie Beining & Stefan Heumann  
 

5. Marktmacht großer Tech-Unternehmen

Trotz immer häufigerer und immer höherer Strafen durch Wettbewerbsbehörden ist die Marktmacht der großen Internetplattformen in den letzten Jahren weiter stark gestiegen. Auch die Verabschiedung der Datenschutzgrundverordnung auf EU-Ebene hat an dieser Dynamik bisher wenig geändert. Hier stehen die politisch Verantwortlichen mittlerweile an einem Scheideweg. Soll Wettbewerbsbehörden die Zerschlagung bzw. Entflechtung der großen Tech-Konzerne ermöglicht werden? Oder ist die Marktmacht der Plattformen berechtigt und kann mit bestehenden wettbewerbspolitischen Mitteln adressiert werden?  

Ansprechpartner:innen im Bereich Datenökonomie: Aline Blankertz & Stefan Heumann 
 

6. Digitale Plattformen und Desinformation

Die Verbreitung von Desinformation, die algorithmische Verstärkung polarisierender und hetzerischer Inhalte oder die Beeinflussung von Wahlen auf Social-Media-Plattformen und anderen Internetdiensten sind zu zentralen Herausforderungen für Demokratien geworden. Allerdings reagieren Plattformbetreiber in Deutschland und Europa zögerlich auf Vorgaben von Politik und Behörden, wie es etwa bei der Datenschutzgrundverordnung deutlich wurde. Wie soll auf das Verhalten der großen Social-Media-Plattformen Einfluss genommen werden? Sollen wir weiter auf unsere nationalen Regulierungsbehörden setzen und beispielsweise die Landesmedienanstalten oder das Bundesamt für Justiz dafür ausstatten, Facebook und Co. zu regulieren? Oder sollen wir stattdessen die Zuständigkeiten in einer einzigen, neuen Aufsichtsbehörde auf europäischer Ebene bündeln? 

Ansprechpartner:innen im Bereich digitale Öffentlichkeit: Anna-Katharina Meßmer & Julian Jaursch 
 

7. Die Automatisierung des Dienstleistungssektors

Geht es um die Digitalisierung von Arbeit, lag der Fokus der Politik lange auf der Industrie und dem produzierenden Gewerbe. Allerdings ist Deutschland wie andere hochentwickelte Ökonomien vor allem eine Dienstleistungsgesellschaft. Dort sind zwei Drittel aller Berufstätigen beschäftigt. Ob Banken, Versicherungen oder Verwaltung: Anders als in der Industrie stehen wir hier im Zuge der Digitalisierung erst am Anfang einer Automatisierungswelle, die auch traditionell sichere und gut bezahlte Arbeitsplätze betrifft. Auch hier steht die Politik vor einer Richtungsentscheidung. Ist es unser Ziel, bestehende Geschäftsmodelle und Arbeitsplätze vor dem Wandel möglichst lange zu schützen – wie beispielsweise im Taxi-Gewerbe? Oder sollen wir die Transformation von Berufen und Branchen mit entsprechender Regulierung aktiv forcieren und uns dann darauf konzentrieren, die dadurch ausgelösten Disruptionen mit Weiterbildungsangeboten und sozialer Absicherung abzufedern?  

Ansprechpartner:innen im Bereich: Philippe Lorenz & Stefan Heumann 
 

8. Reaktion auf Cyber-Operationen

Deutschland wird zunehmend Ziel von Cyber-Operationen, die sich anderen Staaten wie etwa China oder Russland zuordnen lassen. Bisher gibt es keine konsequente Strategie, wie Deutschland auf diese Aktivitäten reagiert – seien es auf nachrichtendienstliche Operationen, Aktivitäten der organisierten Kriminalität oder Beeinflussungsversuche während Wahlen. Verzichtet man auf Konfrontationen und Abschreckung, stärkt die Sicherheit eigener Systeme und prangert nur in Abstimmung mit anderen Staaten Vorfälle öffentlich an? Oder werden diplomatische Konflikte in Kauf genommen, um beispielsweise mit Sanktionen oder eigenen nachrichtendienstlichen Gegenmaßnahmen zu demonstrieren, dass Cyber-Operationen gegen Deutschland mit Konsequenzen verbunden sind?  

Ansprechpartner:innen im Bereich Cyber-Sicherheitspolitik: Sven Herpig, Julia Schuetze & Rebecca Beigel 
 

9. Überwachung und Demokratie im digitalen Zeitalter

Bei den digitalen Überwachungstätigkeiten der Nachrichtendienste, der Bundeswehr oder der Polizei sorgt der Konflikt zwischen dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und dem Schutz von Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit seit Jahren für öffentliche Diskussionen und Gerichtsentscheidungen. Weitere Diskussionen und Reformen sind daher unausweichlich, wie die Debatte um die BND-Reform, den Staatstrojaner oder den Ankauf von Daten durch Nachrichtendienste zeigen. Wie soll die nächste Bundesregierung hier Fortschritte erzielen? Soll versucht werden, die vielen unterschiedlichen Sicherheitsgesetze und Aufsichtsstrukturen Stück für Stück auszubessern und an die Evolution moderner Überwachungspraktiken anzupassen? Oder soll ein völlig neuer, einheitlicher Rechtsrahmen für digitale Überwachungstätigkeiten entwickelt werden, der behördenübergreifend gilt und stärker EU-Recht berücksichtigt?   

Ansprechpartner:inen im Bereich digitale Grundrechte: Thorsten WetzlingCharlotte Dietrich & Kilian Vieth-Ditlmann

Das Verzeichnis aller Expert:innen der SNV mit Kontaktdaten finden Sie hier.

Die Pressemitteilung zum Aufruf finden Sie hier.