Verstehen, was ist. Auf dem Weg in die nachrichtenkompetente Gesellschaft

Policy Brief

Wer sich in digitalen Öffentlichkeiten informiert, braucht weitaus mehr Kompetenzen als früher  


Von schlecht recherchierten Artikeln in den klassischen Massenmedien, über massenhaft verbreitete Falschnachrichten in den Sozialen Netzwerken bis hin zu Staatsoberhäuptern wie in Brasilien oder den USA, die Lügen verbreiten: Misinformationen und Desinformationen sind zu einem ernstzunehmenden und dauerhaften Problem unserer (digitalen) Öffentlichkeiten geworden. Gesellschaftliche Auseinandersetzungen oder globale Krisen, wie die aktuelle COVID-19-Pandemie, verschärfen diese negativen Phänomene noch einmal. Bereits in den Anfängen der sogenannten Corona-Krise hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor einer begleitenden „Infodemie“ gewarnt.


Doch Mis- und Desinformation sind nur die Folge tiefgreifender Entwicklungen, die unsere gegenwärtigen Öffentlichkeiten charakterisieren: In den digitalen Debattenräumen führt die Möglichkeit, dass heute jede:r selbst senden und publizieren kann, zu zahlreichen Herausforderungen. Dies zeigt sich vor allem in der Überfülle zahlreicher gleichzeitiger, teilweise widersprüchlicher privater und öffentlicher, jour­nalistischer, wissenschaftlicher und politischer Informationen. Dabei treten neben Nachrichten und Informationen auch Meinungen, Werbung, Unterhaltung, Hetze, Persuasion oder Desinformation als gleichberechtigte Kommunikationsformen. Als Bürger:innen brauchen wir daher völlig neue Fähigkeiten, um selbst die Zuverlässigkeit von Quellen beurteilen oder Informationen überhaupt erkennen, einordnen und verifizieren zu können. Denn das ist die demokratische Grundlage dafür, fundierte Wahlentscheidungen zu treffen, an öffentlichen Debatten teilzunehmen, die Arbeit von Politiker:innen zu beurteilen und oder in der Pandemie verlässliche Gesundheitsinformationen aufzuspüren.  


Die Herausforderungen für Bürger:innen, verlässliche Informationen zu suchen und zu finden, haben durch den tiefgreifenden digitalen Wandel erheblich zugenommen


Die Ursachen für diese Herausforderungen liegen nun erstens in einer zersplitterten Nachrichtennutzung. Im Jahr 2020 nutzen wir nicht mehr nur eine Plattform oder einen Messenger. Stattdessen findet unsere Medien- und vor allem Nachrichtennutzung eklektizistisch statt, indem wir parallel verschiedene Plattformen, Websites und Apps gewissermaßen für uns passend zusammenbasteln. Für Nachrichtenleser:innen bedeutet dies weniger journalistische Aufbereitung und damit: mehr Eigenverantwortung.


Zweitens erreichen uns viele verschiedene Informationen gleichzeitig, oftmals nur nebenbei, in hoher Geschwindigkeit und oft verkürzt auf vielen verschiedenen Wegen. In Öffentlichkeiten, in denen jede Information eines jeden erdenklichen Senders im Nutzer:innenverständnis zu einer (relevanten) Nachricht werden kann, taugt das klassische Verständnis einer „Nachricht“ im Sinne eines journalistisch aufbereiteten Ereignisses nicht mehr. Das Kuratieren der eigenen Timelines ist zur einsamen Mammutaufgabe der Nutzer:innen geworden, bei der uns Journalismus nur noch bedingt unterstützen kann.   


Drittens spielen Plattformen wie Facebook, YouTube & Co. Nachrichten und Beiträge nach ganz eigenen algorithmischen Logiken aus, die weniger an Qualitätskriterien als viel mehr an Aufmerksamkeitsökonomien orientiert sind. Nutzer:innen müssen diese entsprechend erst verstehen, um zu lernen, dass Klickzahlen oder Reichweiten wenig über die Qualität des Inhaltes oder die Repräsentativität von Meinungen aussagen.  


Viertens sehen sich Nachrichtennutzer:innen im Digitalen mit einer Informationsflut konfrontiert. Dass dabei politische Nachrichten und Informationen in einen ununterbro­chenen Strom zahlreicher verschiedener Benachrichtigungen, Messages und Informationsbausteine eingebettet sind, führt nicht nur zu einer Dekontextualisierung der einzelnen Beiträge, sondern auch dazu, dass Menschen ‘nachrichtenmüde’ werden oder aufhören, gezielt nach Informationen zu suchen.  


Durch die Informationsflut stellt sich fünftens die Vertrauensfrage: Welche Information kann ich eigentlich glauben? Und vertraue ich der Quelle dahinter? Dazu braucht es nicht nur belastbares Wissen über die Zuverlässigkeit von Quellen und Medienumgebungen, sondern auch ein grundsätzliches Vertrauen in bestimmte Medien, Formate und Menschen. Eine besondere Herausforderung ist dabei das hohe Vertrauen in persönliche Kontakte und die Nachrichten, die uns auf privaten Wegen erreichen (z.B. durch Messengerdienste wie WhatsApp), auch wenn die so empfangenen Informationen unter Umständen keine hohe Informationsgüte besitzen.

Erste Ergebnisse zur Nachrichtenkompetenz quer durch alle Altersgruppen sind „beunruhigend“

Bisherige Studienergebnisse deuten nun an, dass wir von den beschriebenen Herausforderungen eher überfordert sind und uns möglicherweise verschiedene Fähigkeiten fehlen. Laut D21 Digital Index 2019/2020 traut sich gerade einmal die Hälfte der Deutschen zu, seriöse von unseriösen Nachrichten unterscheiden zu können. Verlässt man die Pfade der Selbsteinschätzung und testet Kompetenzen, sind die Ergebnisse ebenfalls „beunruhigend“, wie es die Autor:innen der Stanford History Education Group in ihrer 2019 veröffentlichen Studie zur Nachrichtenkompetenz von Jugendlichen in den USA zusammenfassen. Dabei waren 96 Prozent der befragten Schüler:innen nicht in der Lage, eine Lobby-Website der Kraftstoffindustrie als Informationsquelle zur Klimakrise zu hinterfragen. Andere Studien zeigen, dass es um die Nachrichten- und Informationskompetenz älterer Generationen auch nicht besser bestellt zu sein scheint. Insbesondere die Generation 60+ scheint – zumindest in den USA – besonders anfällig für Desinformationen. Es ist bisher eine offene Frage, ob sich dies in Deutschland ähnlich darstellt.

Das Modell der sechs Skill-Sets: Welche Fähigkeiten benötigen nachrichtenkompetente Bürger:innen heute? 

Anknüpfend an diese ersten Studienergebnisse haben wir uns in der Stiftung Neue Verantwortung gefragt, was digitale Bürger:innen ganz konkret können müssen, um sich nachrichtenkompetent in digitalen Öffentlichkeiten zu bewegen. Dazu haben wir das Modell der sechs Skill-Sets entworfen. Denn digitale Bürger:innen brauchen heute letztendlich – zumindest in einfachen Grundzügen – Wissen und Fertigkeiten aus ganz verschiedenen Bereichen und damit die Kompetenzen von sechs verschiedenen Expert:innen: 

1. Die Digitale Navigatorin
Das Skill-Set der digitalen Navigatorin ist das grundlegende Skill-Set und beschreibt die grundsätzlichen Kompetenzen zur (angemessen) schnellen und überblickshaften Navigation in unübersichtlichen und entgrenzten Informationsumgebungen. Es umfasst also in erster Linie all jene Fähigkeiten, die es braucht, um sich in den verschiedenen Nachrichtenumgebungen (wie zum Beispiel in Sozialen Netzwerken) schnell zurecht zu finden, um Unterhaltung, Werbung, Nachrichten oder Meinungsmache voneinander zu unterscheiden.

2. Die Journalistin
Daran anknüpfend beschreibt das Skill-Set der Journalistin all jene Kompetenzen, die nötig sind, um die Güte einer Nachricht oder Information zu beurteilen. Unabhängig davon, ob es sich um klassische Nachrichten, Twitter-Threads oder YouTube-Videos handelt. Dazu gehören beispielsweise die Fähigkeit, eine professionell verfasste Nachricht von anderen Formen der Information (wie etwa einem Kommentar) unterscheiden zu können, oder auch grundlegende Kenntnisse über journalistische Kriterien der Nachrichtenauswahl.

3. Der Fact­-Checker
Beziehen sich die Skill-Sets der digitalen Navigatorin und der Journalistin in erster Linie darauf, Informationen einzuordnen und zu bewerten, zielt das Skill-Set des Fact-Checkers darauf ab, diese auch einer eingehenderen Prüfung auf deren Wahrheitsgehalt und (politischen) Bias zu unterziehen. Der Fact-Checker kann also einschätzen, ob er für die Bewertung einer Nachricht weiterführende Informationen braucht und er kann diese auch recherchieren, um eine Nachricht gegebenenfalls zu verifizieren oder falsifizieren. 

4. Der Debatteur
Das Skill-Set des Debatteurs umfasst schließlich all jene Fähigkeiten, die nötig sind, um aktiv, reflektiert und informiert am politischen digitalen Diskurs teilzuhaben. Dazu gehört erstens ein Grundverständnis von der eigenen Rolle in digitalen Öffentlichkeiten, zweitens und daran anknüpfend die Fähigkeit, Informationen aufzubereiten und weiterzugeben, sowie drittens ein aktiver kritischer Umgang mit Falschnachrichten.

5. Die Kommunikationswissenschaftlerin
Das Skill-Set der Kommunikationswissenschaftlerin beschreibt das Hintergrundwissen, das nötig ist, um die Mechanismen zu verstehen, die hinter digitalen Öffentlichkeiten stehen. Dabei umfasst dieses Skill-Set weniger konkrete Fähigkeiten als mehr das Allgemeinwissen über (digitale) Öffentlichkeiten, auf das die Fähigkeiten der anderen Skill-Sets aufbauen. Es geht also darum, die Grundzüge des klassischen Mediensystems ebenso zu verstehen wie die technologischen Hintergründe von Suchmaschinen, Nachrichtenseiten oder Social-Media-Plattformen.

6. Der Citoyen
Der Citoyen, das sechste und letzte Skill-Set, lässt sich eher als Zusammenspiel von Skill-Set und Mindset verstehen. Er weiß – im Bestfall – um die Bedeutung von Meinungsfreiheit, freien Medien und Journalismus in der Demokratie. Doch dieses Wissen ist nicht von der politischen Haltung entkoppelt. Denn die Wertschätzung für die Rolle des Journalismus geht auch mit der Wertschätzung für demokratische Institutionen einher. Dieses eher normativ-politische Verständnis bestimmt damit beispielsweise auch die Mediennutzung und welchen Quellen man vertraut.  

7. Zusammenfassung
Bei der Beschreibung der einzelnen Skill-Sets handelt sich ohne Zweifel um Idealtypen und thematische Bündelungen verschiedener Kompetenzen, die wir gewählt haben, um ein besseres und vor allem umfassendes Verständnis digitaler Nachrichten- und Informationskompetenz zu entwerfen. Aus diesem Grund sind die einzelnen Skill-Sets in der Praxis nicht trennscharf voneinander abzugrenzen. Im Gegenteil: Sie ergänzen einander, bauen aufeinander auf und funktionieren nur in ihrem Zusammenspiel.

Wie nachrichtenkompetent sind die Deutschen?

Das Papier bildet das Grundgerüst für einen empirischen Test, den wir in den kommenden Monaten aufsetzen werden. Dieser Test soll messen, wie es um die Nachrichten- und Informationskompetenz der Deutschen bestellt ist. Die Ergebnisse werden dabei helfen, zu verstehen, welche Nutzer:innen- und Altersgruppen in welchen Kompetenzbereichen wie abschneiden, um daraus Ideen und Handlungsvorschläge für alle Akteur:innen digitaler Öffentlichkeiten – von Bürger:innen über Bildungsinstitutionen, öffentlich-rechtliche Medien bis zu den Plattformen – abzuleiten.