Regeln für faire digitale Wahlkämpfe

Policy Brief

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Wahlkämpfe finden schon lange nicht mehr nur auf der Straße statt, sondern verlagern sich immer weiter in die digitale Welt. Parteien und andere politische Organisationen erreichen online viele Menschen auf einmal mit eigenen Kanälen in sozialen Netzwerken, mit eigenen Apps und Messengergruppen und indem sie zielgerichtet Werbeanzeigen und Influencer:innen einsetzen. Dieser Trend zeigt sich nicht nur in den USA, Großbritannien und Frankreich seit Jahren, sondern auch in Deutschland immer mehr: Allein politische Parteien hierzulande gaben im Wahlkampf zum Europäischen Parlament 2019 geschätzt 1,5 Millionen Euro für rund achtzigtausend Anzeigen auf Facebook und Google aus, die millionenfach angeschaut wurden. Parteien, aber auch andere politische Werbetreibende, können Anzeigen in sozialen Netzwerken nutzen, um ihre Positionen zu präsentieren, ihre Gegner:innen zu kritisieren, Freiwillige zu rekrutieren und Spenden einzuwerben. 

 

Politische Werbung findet online unter anderen Vorzeichen statt als offline 

Dieser Onlinewahlkampf, teils getrieben von zielgerichteter Werbung in sozialen Medien, unterscheidet sich erheblich von klassischer politischer Werbung im Fernsehen und auf der Straße. Bezahlte politische Kommunikation im Internet ist datengestützt, personalisiert und findet auf digitalen Werbeplattformen statt. Anhand persönlicher Verhaltensdaten, die im Internet und auf mobilen Geräten gesammelt werden, erstellen Werbeplattformen Profile von Wahlberechtigten. Parteien und andere Organisationen können mit dieser Fülle an Daten, die offline nicht verfügbar ist, Zielgruppen anhand bestimmter (zugeschriebener) Vorlieben und Abneigungen ansprechen. Die Fülle und Tiefe der Verhaltensdaten hilft zudem den Algorithmen der Plattformen, genau den Menschen bestimmte politische Botschaften anzuzeigen, die am ehesten darauf reagieren werden. Außerdem können politische Kampagnen leichter und häufiger testen, welche ihrer Botschaften bei welchen Wählergruppen besonders gut funktionieren – oftmals, ohne dass die Nutzenden davon etwas mitkommen. All dies ist in einem vergleichbaren Ausmaß mit Plakatkampagnen, Briefsendungen und Ansprachen auf der Straße nicht möglich. 

 

Risiken von politischer Onlinewerbung: Verstärkte Polarisierung, Einflussnahme finanzstarker Interessen und mangelnde Kontrolle 

Es ist eine positive Entwicklung und dringend notwendig, dass deutsche Parteien und Kampagnen versuchen, Wähler:innen und Unterstützer:innen im Internet zu erreichen. Doch der Aufstieg politischer Onlinewerbung ist auch mit potenziellen Risiken für einzelne und die Gesellschaft verbunden. Erstens kann politische Onlinewerbung in ihrer jetzigen Form gesellschaftliche Spaltungen erhärten: Die eng auf homogene Zielgruppen zugeschnittene Werbung kann dazu führen, dass Menschen nur solche Botschaften erhalten, die ihre eigenen Ansichten verstärken und Ängste gegenüber der Gegenseite schüren. Denn dies sind wahrscheinlich die Anzeigen, die Nutzende „liken“ und teilen. Zweitens können finanzkräftige Werbetreibende mit ihren Anzeigen Nutzerfeeds überfluten und so andere politische Meinungen ertränken. Drittens bleibt politische Onlinewerbung trotz Transparenzmaßnahmen undurchschaubar. Die hohe Zahl an Anzeigen und deren algorithmische Ausspielung machen Gegenrede und eine Kontrolle im öffentlichen Interesse, wie es Medien und Bürger:innen für traditionelle Werbung übernehmen, kaum möglich. Das öffnet Tür und Tor für mögliche Diskriminierungen und Negativkampagnen, die unbeobachtet und unkommentiert bleiben. 

 

Bestehende Regeln und Gesetze sind veraltet und schützen kaum vor möglichen negativen gesellschaftlichen Auswirkungen digitaler Wahlkämpfe 

Deutschland ist nicht gut genug gerüstet, um mit dem technologischen Wandel im Bereich politischer Onlinewerbung und den damit einhergehenden möglichen Risiken umzugehen. Bestehende Regeln und Gesetze für politische Werbung wurden für die Offlinewelt entwickelt und bieten kaum noch Schutz. Zum Beispiel gibt es für Postwurfsendungen klare Vorgaben, welche demografischen Daten von wem genutzt werden dürfen. Für das verhaltensbasierte Microtargeting im Internet bestimmen es Plattformen meist allein, wie sie das Targeting politischer Werbung handhaben. Zwar kann die europäische Datenschutzgrundverordnung an wichtigen Stellen Microtargeting begrenzen, aber an anderen Stellen mangelt es an klare Grenzen. Rundfunkregulierung in Deutschland sorgt dafür, dass selbst finanzstarke Werbetreibende nicht die TV-Programme überfluten können. Ähnliche Einschränkungen könnte es im Medienstaatsvertrag geben, der dazu jedoch vage bleibt. Auch freiwillige, selbstregulatorische Maßnahmen der Unternehmen weisen große Schwächen auf: Um wenigstens etwas öffentliche Kontrolle zu ermöglichen, haben große Plattformen auch auf Druck der EU Werbearchive aufgebaut. Diese Datenbanken für politische Anzeigen sollen nachvollziehbar machen, welche politische Gruppen mit welchen Botschaften Wähler:innen ansprechen. Die Archive sind jedoch fehleranfällig und bieten Bürger:innen und Forschenden nur rudimentäre Informationen. Rudimentär sind auch die Transparenzpflichten für Parteien, die wenig Informationen zu Werbeausgaben preisgeben. 

 

Welche Regeln zu politischer Onlinewerbung in Deutschland und auf EU-Ebene benötigt werden 

Der Mangel an klaren Vorgaben für bezahlte politische Kommunikation in der Onlinewelt ist eine Gefahr für eine freie, offene, pluralistische politische Willensbildung. Dies haben die Wahlkämpfe in den USA, Großbritannien und vielen weiteren Staaten der vergangenen Jahre gezeigt. Auch wenn Deutschland ein anderes politisches System und eine andere politische Kultur aufweist, sollten politische Entscheidungsträger:innen in Deutschland aktiv werden und mögliche Risiken angehen, die auch hierzulande existieren. Dafür sollten Regeln für politische Werbung erneuert und erweitert werden. Selbstregulierung der Unternehmen und Parteien ist allein nicht ausreichend. Die folgenden Maßnahmen sollten zum Schutz von Wahlen und politischer Debatten diskutiert werden. 

 

Drosselung für verhaltensbasiertes Targeting 

Als vordringliche Aufgabe geht es darum, zu verhindern, dass politische Onlinewerbung stark auf die vermuteten Wesenszüge der Wahlberechtigten zielt und darauf setzt, einzig deren vorhandene Positionen und Ängste zu verstärken. Deshalb sollten Gesetzgebende klare Grenzen für politisches Microtargeting einziehen. Das Targeting und die Ausspielung von politischer Werbung sollte nur aufgrund einiger weniger demografischer Daten erlaubt sein und umfassende persönliche, auch abgeleitete, Verhaltensdaten sollten dafür nicht zugelassen sein. Dafür müssen freiwillige Microtargeting-Beschränkungen einiger Unternehmen ausgeweitet und plattformübergreifend verpflichtend gemacht werden. Eine Mindestgröße für Werbezielgruppen kann zusätzlich dabei helfen, dass Werbetreibende größere, heterogene Gruppen ansprechen müssen und nicht zielgerichtet die bestehenden Ansichten und Ängste der Bürger:innen bedienen und so Polarisierung verstärken. Dies könnte auch über finanzielle Anreize erreicht werden, etwa Rabatte für größere, heterogene Zielgruppen. Zudem sollten Nutzende bessere Möglichkeiten haben, selbst zu bestimmen, ob und wie ihnen politische Werbung angezeigt wird. 

 

Eine Quote für politische Werbung, wie sie aus dem Rundfunk bekannt ist, wäre eine Möglichkeit, Überflutungen von Nutzerfeeds zu verhindern. Sie müsste aber für den Onlinebereich komplett überdacht werden und sich an anderen, erweiterten Kriterien messen als offline. Dafür ist eine Modernisierung der Definition politischer Werbung nötig, die die Besonderheiten des Onlinebereichs anerkennt. Gestaffelte Grenzen für Onlinewerbeausgaben könnten darüber hinaus als Lösungsmöglichkeit diskutiert werden. 

 

Erweiterte Aufsicht zur Kampagnenfinanzierung 

Grundsätzlich sollte die Aufsicht über die Finanzen politischer Werbetreibender erweitert werden und nicht nur Parteien umfassen, sondern auch bezahlte Kommunikation anderer politischer Bewegungen und Organisationen. Für politische Werbetreibende sollte es Verifizierungsmechanismen geben, die nicht wie bisher ausschließlich auf den Definitionen der Plattformen beruhen. Rechenschaftsberichte müssen ebenfalls ausgebaut werden und unter anderem digitale Werbeausgaben detaillierter aufschlüsseln. 

 

Verpflichtende Transparenzpflichten für Plattformen 

Plattformen sollten bestimmte Transparenz- und Rechenschaftspflichten auferlegt werden, um eine Beobachtung und Analyse von Onlinewerbung im öffentlichen Interesse zu ermöglichen. Verpflichtende Werbearchive sollten dazu gehören, mit Standards für erweiterte, detaillierte Informationen zu den Targeting- und Ausspielungskriterien. Auch sollten Berichtspflichten zu den Werbepraktiken der Plattformen eingeführt werden. Zwar haben viele Unternehmen schon jetzt Richtlinien für Werbeinhalte, aber über die Art und Weise des Targetings und der algorithmischen Werbeausspielung ist wenig bekannt. Erweiterte verpflichtende Berichte könnten es erleichtern, die tatsächliche Werbepraxis mit den Angaben der Plattformen zu vergleichen. In der Folge könnten Techunternehmen dazu angehalten werden, einer unabhängigen Stelle Einsicht in die Werbealgorithmen selbst zu geben. 

 

Unabhängige Stelle zur Prüfung der Transparenzpflichten 

Die fehlenden Transparenz- und Rechenschaftspflichten offenbaren, wie wenig Aufsicht über das datengetriebene, algorithmische Werbegeschäftsmodell großer Plattformen vorhanden ist. Deutschland sollte sich auf europäischer Ebene dafür einsetzen, dies zu ändern. Aufsichtsmechanismen für Plattformen werden beispielsweise im geplanten Digital Services Act diskutiert. Dies wäre ein geeigneter Ort, um etwa Berichtspflichten branchenweit festzulegen. Solche Aufsichtsmechanismen sollten unterschiedliche Größen und Marktmachtstellungen der Plattformen berücksichtigen. Außerdem muss klar herausgearbeitet sein, für wen die Transparenzmaßnahmen gedacht sind, welche Ziele sie verfolgen und wer deren Einhaltung prüft. Beispielsweise sind Werbearchive nicht nur für Nutzende selbst, sondern besonders für Forschende und unabhängige Aufsichtsgremium nützlich, und sollten daher auch deren Bedürfnisse berücksichtigen. Wenn dadurch Forschung für ein Verständnis von politischer Onlinewerbung ermöglicht wird, profitieren Bürger:innen indirekt. Kennzeichnungspflichten für Anzeigen in Nutzer-Feeds kommen Bürger:innen direkt zugute und sollten so designt sein, dass Nutzende Handlungsoptionen haben, wie politische Onlinewerbung ihnen angezeigt wird. Eine externe Prüfung solcher Transparenzmaßnahmen und -richtlinien ist nötig. Dabei ist es wichtig zu beachten, dass eine dafür zuständige Aufsichtsstelle parlamentarisch legitimiert ist, unabhängig von Regierung und Industrie ist sowie mit Expertise, Budget und Sanktionsmechanismen ausgestattet ist. Auch die Diskussion zu einer möglichen Branchenaufsicht sollte idealerweise auf EU-Ebene geführt werden.

Wahlkämpfe und politische Bewegungen werden immer öfter und stärker digital aufgebaut. Schon jetzt geben Parteien und andere politische Werbetreibende in Deutschland Millionen für Anzeigen auf sozialen Netzwerken, Videoportalen und Suchmaschinen aus. Auf diesen großen digitalen Werbeplattformen bieten sich andere Möglichkeiten für bezahlte politische Kommunikation als offline. Es sollten gewählte Gesetzgebende und nicht wie bisher private Unternehmen sein, die dafür Regeln finden.