Der blinde Fleck digitaler Öffentlichkeiten

Impulse

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Zusammenfassung

Auch bei der EU-Parlamentswahl im Mai besteht Sorge vor Desinformationskampagnen, die online stattfinden und so Einfluss auf den Wahlprozess nehmen könnten. Derzeit ist es fast unmöglich, systematische Untersuchungen über die Verbreitungswege, die beteiligten Akteure und die Reichweite von Desinformationskampagnen innerhalb der Social-Media-Plattformen anzustellen. Wir können derzeit kaum systematisch untersuchen, wie viel Desinformation sich auf welchen Social-Media-Plattformen befinden, wie sehr das Design der Plattformen zur Verbreitung von Falschinformationen beiträgt, wer Desinformation systematisch verbreitet oder wie stark der Einfluss auf unsere politischen Debatten ist. Dies ist nicht nur ein Problem für Fact-Checking-Organisationen oder Behörden, die versuchen, gegen Hetze oder Propaganda vorzugehen. Es ist auch ein enormes Problem für politische Entscheidungsträger:innen, die derzeit in vielen Ländern aber auch supranational, versuchen, wirksame Maßnahmen zum Schutz demokratischer digitaler Öffentlichkeiten zu entwickeln.

Der Zugriff auf die dafür benötigten Daten von Facebook, Twitter, YouTube, Instagram und anderen Plattformen ist derzeit stark eingeschränkt, sodass Untersuchungen der digitalen Öffentlichkeit quasi blind sind. Die benötigten Daten werden von den Plattformen zwar erhoben, sie stehen der Öffentlichkeit aber nicht zur Verfügung. Dabei geht es explizit nicht um die privaten Daten von Nutzer:innen, sondern um die Daten von Beiträgen, die in sozialen Medien öffentlich geteilt werden – etwa von Firmen, Nachrichtenseiten, Politiker:innen oder Influencer:innen.

Für die systematische Analyse solcher öffentlichen Beiträge sind unterschiedliche Datenpunkte relevant. Dazu gehören unter anderem technische Daten (wer hat den Beitrag wann erstellt), Reichweitendaten (wie vielen Nutzer:innen wurde der Beitrag angezeigt, wie viele Accounts haben mit dem Beitrag interagiert, indem er geliket oder geteilt wurde), Suchergebnisdaten (über welche Stichwörter kann man den Beitrag in Suchmaschinen oder auf der Plattform selbst finden), Daten darüber, ob der Beitrag als Werbeanzeige geschaltet wurde und wie viel Geld dafür ausgegeben wurde sowie Angaben dazu, ob der Beitrag nachträglich geändert wurde.

Alle diese Daten können derzeit nur bedingt systematisch eingesehen werden. Dies gilt für Facebook, Twitter, Instagram und YouTube, die in Bezug auf Nutzer:innenzahlen zu den größten sozialen Netzwerken in Deutschland zählen und die damit auch relevant für die öffentliche Meinungsbildung sind. Sie alle stellen nur sehr vereinzelt Schnittstellen bereit, die aber keine umfassenden systematischen Analysen ermöglichen.

Wie problematisch es ist, wenn Daten darüber fehlen, welche Social-Media-Desinformationskampagnen kursieren, wie sie sich verbreiten und welche Akteure an ihrer Verbreitung beteiligt sind, zeigten die Vorfälle in Chemnitz im Sommer 2018, bei denen ein junger Mann getötet wurde. In der Folge gab es Ausschreitungen durch Rechtsextreme, die sich auch online organisiert und durch Desinformation Stimmung gemacht haben. Versucht man, diese Desinformationskampagnen systematisch zu analysieren, stößt man je nach Art des Beitrags schnell an die Grenzen. Reine Textbeiträge können auf manchen Plattformen zumeist noch durch die Suchfunktion gefunden werden, etwa über das Stichwort “Chemnitz”. Inhalte in Bild- und Videodaten lassen sich aber so nicht finden, obwohl es durch automatische Texterkennung technisch möglich wäre. Doch auch die Suchfunktion selbst ist problematisch: Die Reihenfolge, in der Ergebnisse angezeigt werden, birgt das Potential, zur Verbreitung von Desinformation beizutragen. Ob ein Beitrag bestimmten Nutzer:innen als Werbung angezeigt wird, um die Sichtbarkeit zu erhöhen, ist auf Facebook derzeit nicht systematisch nachvollziehbar.

Der Zugang zu relevanten öffentlichen Daten der Social-Media-Plattformen muss verbessert werden, damit Forschung und Politik in Sachen Desinformation nicht länger im Dunkeln tappen. Die wenigen Datenschnittstellen, die etwa Google oder Facebook auf freiwilliger Basis für politische Werbung im Vorfeld von Wahlen anbieten, reichen nicht aus. Benötigt werden Datenzugänge, die sowohl das Echtzeit-Monitoring von sozialen Netzwerken ermöglichen, als auch den Zugriff auf Daten aus der Vergangenheit. Erst wenn diese Daten vorliegen, können Regierungen und Behörden wirksame Maßnahmen gegen Desinformation entwickeln und überprüfen. Gleichzeitig würde dies auch die Wissenschaft in die Lage versetzen, fundierte Studien zu den Herausforderungen unserer digitalen Öffentlichkeit zu erstellen.

Erschienen bei: 
Stiftung Neue Verantwortung
21. März 2019
Autor:in: 

Alexander Sängerlaub