Newsletter August 2019: Was wir mit Interesse lesen

Moderne Gesellschaften sind darauf angewiesen, Katastrophen aufzuarbeiten, um aus ihnen zu lernen. Allerdings wird dies häufig erst möglich, wenn sich eine Untersuchung nicht nur auf das Versagen einer Technologie oder die Fehler einzelner Menschen konzentriert, sondern auch die dahinter liegenden politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge kritisch in den Blick nimmt. Genau dies zeigt die Journalistin Rachel Slade, indem sie den Untergang des Frachtschiffs El Faro umfassend aufarbeitet, welches 2015 in einem schweren Hurricane mit allen 33 Besatzungsmitgliedern sank und für eine der schwersten Katastrophen der modernen Handelsschifffahrt steht. Ein spannendes und gesellschaftlich bedeutsames Sachbuch. Gelesen von Sebastian Rieger.

Wie gehen wir im digitalen Raum mit der Moderation und Löschung von Meinungsäußerungen um? Die Beantwortung dieser Frage ist ein Balanceakt zwischen Zensur und Redefreiheit, auf die der US-amerikanische Jurist und UN-Sonderberichterstatter für Meinungsfreiheit David Kaye in seinem Buch eingeht. Er zeigt auf, dass gerade der Umgang mit Desinformation und hasserfüllten Online-Postings in einem globalen Kontext gesehen werden muss. Denn was in einem Land als Gesetz gegen Fake News und hasserfüllte Online-Postings gedacht war, kann schnell zu einem Werkzeug der Machthabenden werden, um unliebsame Opposition mundtot zu machen. Kaye plädiert daher für klarere politische Regeln zur Inhaltemoderation, statt sich allein auf undurchsichtige Strukturen bei Privatunternehmen zu verlassen. Gelesen von Julian Jaursch.

Frauen stehen heute viele Wege offen, die ihnen noch vor wenigen Jahren verschlossen waren. Dass Frauen aber auch heute noch in einer Welt leben, die für und von Männern designt wurde und in zahllosen Lebensbereichen keinerlei Rücksicht auf ihre Bedürfnisse nimmt, zeigt Caroline Criado Perez in ihrem Buch eindrucksvoll. Vom Winterdienst auf öffentlichen Straßen über die Passform von Uniformen bis hin zur Krebsdiagnostik – in erschreckend vielen Beispielen zeigt die Autorin, wo Frauen Bedarfe haben, die keine Beachtung finden. Allerdings sieht sie das Problem weniger in gezielter Diskriminierung begründet, sondern in Achtlosigkeit, da zu Frauen und Minderheiten kaum Daten erhoben werden. In einer Welt, die zunehmend auf Daten und deren Auswertung basiert, ist diese Erkenntnis erschütternd. Gelesen von Johanna Famulok.

Vor knapp zehn Jahren hat sich das Bewusstsein darüber, welchen Schaden Cyberangriffe anrichten können, schlagartig geändert. Unter dem Namen "Stuxnet" wurde eine Schadsoftware bekannt, die es auf die iranische Urananreicherung abgesehen hatte. Stuxnets Ziel war es – etwas überspitzt formuliert – die iranischen Nuklearwaffen-Ambitionen zunichte zu machen. Kim Zetter erzählt spannend nach, wie sich die Stuxnet-Software damals verbreitet hat und erklärt anhand dieses Beispiels verständlich, warum geopolitische Entwicklungen heute so häufig auch den Einsatz von technischen Mitteln mit sich bringen. Für jede:n, der:die sich mit "Cyber" befassen möchte, ist ihr Buch daher ein sehr guter Start. Gelesen von Sven Herpig.

Online-Petitionen und Mobilmachung über Social Media haben unsere Wahrnehmung von zivilgesellschaftlicher Mitbestimmung in den letzten Jahren radikal verändert. Das klassische Instrument des Streiks wirkt da zwar fast altertümlich – es ist aber noch immer ausgesprochen machtvoll um Allianzen für gute Bildung, menschenwürdige Pflege oder wirksamen Umweltschutz zu erkämpfen, wie Jane F. McAlevey an verschiedenen Beispielen aus der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung zeigt. Sie analysiert Erfolgsfaktoren für nachhaltigen Wandel und konkrete Maßnahmen für das Organisieren von Beschäftigten und ihren Communities. Die sind oft erstaunlich analog. Gelesen von Kilian Vieth.

Nachrichtendienstliche Tätigkeit und demokratische Rechtstaatlichkeit gleichzeitig zu ermöglichen, ist für Staaten keine einfache Aufgabe – oder am Ende sogar unmöglich? Dieser Frage geht der Autor nach und stellt dabei dar, wie sich Nachrichtendienste in verschiedenen Staaten und Regimen herausgebildet haben und welchen Wechselwirkungen durch die Regierungen, Kontrolleur:innen oder das Parlament sie dabei unterliegen. Besonders positiv fällt hier auf, dass auch Länder des Globalen Südens untersucht werden, zum Beispiel Mexiko und Argentinien. Unter dem Eindruck eines sich veränderten Mediensystems und technologischen Möglichkeiten plädiert er dafür, auch Überwachung und Kontrolle neu auszuhandeln. Gelesen von Thorsten Wetzling.

Wir treffen in unserem Alltag laufend Entscheidungen. Oft denken wir darüber lange und sorgfältig nach, wägen ab. Viel häufiger aber müssen Entscheidungen schnell und intuitiv gefällt werden. Gerade in diesem schnellen Modus neigen wir jedoch zu systematisch schlechten Entscheidungen, deren Entstehung Daniel Kahneman unterhaltsam und aufschlussreich erklärt. Anhand dieser Mechanismen erklärt er auch, warum simple Algorithmen menschlichen Expert:innen haushoch überlegen sind, wenn es um die Vorhersage seltener Ereignisse geht. Algorithmen und Daten entscheiden nicht immer besser als wir selbst, doch um die passenden Einsatzgebiete zu erkennen, sollten wir zunächst unser eigenes Entscheidungsverhalten verstehen. Gelesen von Aline Blankertz.

Die beiden ehemaligen Cybersicherheitsberater der amerikanischen Regierung geben in ihrem Buch einen sowohl historischen als auch aktuellen Überblick darüber, wie sich die Strategie der USA im Cyberraum entwickelt hat und wie sie sich nun unter Trump wandelt. Dabei gelingt es ihnen, die Herausforderungen, welche die nationale Cybersicherheit aktuell prägen, aufzuzeigen und miteinander zu verknüpfen: Welche Handlungsoptionen haben Wirtschaftsunternehmen und wie viel der Verantwortung liegt beim Staat? Anhand vieler Beispiele und der Einbindung verschiedener Perspektiven entsteht nicht nur ein gutes Verständnis für die aktuelle Positionierung der USA, sondern auch Bewusstsein über die Handlungsspielräume im Cyberraum. Gelesen von Julia Schuetze.

Die Klimakrise zwingt uns dazu, schnell viele wirtschaftliche und gesellschaftliche Bereiche zu verändern. Steuern muss das die Politik, doch nicht jedes politische Instrument ist gleichermaßen dazu geeignet, diesen Wandel herbeizuführen. Hal Harvey analysiert verschiedene politische und technische Lösungen nicht nur in Bezug auf ihre jeweiligen Beiträge zur Dekarbonisierung, sondern auch deren Wirksamkeit, Umsetzbarkeit und Nachhaltigkeit, oftmals mit überraschendem Ergebnis. Gelesen von Fabian Reetz.

Die beiden Autorinnen, eine Datenwissenschaftlerin und eine Künstlerin, erklären in diesem kostenlos verfügbaren Comic die Grundlagen von Künstlicher Intelligenz, geben Beispiele und setzen sich sehr unaufgeregt mit der Technologie auseinander. Besonders betonen sie dabei die positiven wie negativen gesellschaftlichen Auswirkungen von KI, die von dem bewussten Umgang mit diskriminierenden Datensätzen und dem Hinterfragen der eigenen Privilegien abhängen. Der Comic ist zwar in schwarz-weiß gezeichnet, doch inhaltlich besticht er durch feine Schattierungen und reflektiertes Abwägen von Chancen und Risiken. Gelesen von Anna Wohlfarth.

“Die vernetzte Welt existiert längst in einem Zustand rauschhafter Nervosität (…)” beginnt Pörksens Charakterisierung der derzeitigen, digitalen Öffentlichkeit. Dass Erregung und Gereiztheit unsere Kommunikation online so prägen, sieht er als Gefahr für unsere demokratische Ordnung und sucht in seinem Buch nach Lösungen, um diese durch die Stärkung der Medienmündigkeit abzuwenden. Damit liefert er nicht nur eine tiefgreifende Beschreibung der Veränderungsprozesse, mit denen sich die Öffentlichkeit derzeit konfrontiert sieht, sondern verpackt das dank zugänglicher Sprache und gut gewählter Beispiele auch in eine ansprechende und kurzweilige Lektüre. Gelesen von Alexander Sängerlaub.

Unternehmen wie Facebook und Google haben viel Einfluss auf den Diskurs über und die Implementierung von Künstlicher Intelligenz. Aber in diesen Firmen aus dem Silicon Valley herrscht kaum Diversität: Können wir davon ausgehen, dass ihre einflussreichen Entwicklungen gesellschaftlich verträglich sind, wenn praktisch nur weiße, männliche, nordamerikanische Informatiker an der Entstehung beteiligt sind? Und nicht nur die Produkte, die in diesem Arbeitsumfeld entstehen, hinterfragt die Autorin in "Brotopia", sondern auch die Arbeitskultur, die in Tech-Unternehmen herrscht und leider oftmals einen Nährboden für Diskriminierung bietet. Gelesen von Kate Saslow.

Überwachung und Datenerhebung gehen heute nicht mehr nur von Staaten aus, sondern in hohem Ausmaß auch von gewinnorientierten Firmen. Dass die technologiegestützte, staatliche Überwachung die Demokratie, Menschenrechte und die Autonomie von Bürger:innen gefährden, ist weithin bekannt. Doch auch das, was Zuboff als kapitalistischen Totalitarismus beschreibt, in dem das Wissen über Bürger:innen und Nutzer:innen eine gewaltige, gesellschaftliche Machtverschiebung auslöst, hat ihrer Analyse zufolge eine ähnlich zersetzende Wirkung. Gelesen von Jan-David Franke.

Machine Learning (ML) ist die derzeit einflussreichste Teildisziplin innerhalb der Künstlichen Intelligenz. ML ermöglicht Sprachassistenten, Übersetzungs- und Mobilitätsdienstleistungen, aber auch Gesichtserkennung, Deepfakes und Predictive Policing. Der Computerwissenschaftler Pedro Domingos erklärt die wichtigsten Denkschulen der Technologie und setzt sich mit den daraus entstandenen Anwendungen, ihren Stärken und Schwächen sowie den führenden Forscher:innen auseinander. Diese Auseinandersetzung dient dem Autor als Beginn für die Suche nach dem “Master Algorithmus”, der in der Lage sein wird, alles aus Daten zu lernen und damit noch deutlicher als heute unsere Gesellschaften formen wird. Gelesen von Philippe Lorenz.